Zeitmanagement für Lehrkräfte: Hilfe oder Schuldfalle?
Vielleicht kennen Sie dieses anschauliche Bild von Seminaren und Vorträgen zum Thema Zeitmanagement. Eine Vase steht für Ihr Zeitkontingent. Große Kieselsteine für die wichtigen Aufgaben. Sand und Kies für weniger Wichtiges. Verdaddelt man seine Zeit zuerst mit Nichtigkeiten, bleibt keine Zeit mehr für die wirklich wichtigen Dinge. Die großen Kieselsteine passen nicht mehr alle in die Vase, weil unten zu viel Sand liegt. Legt man aber zuerst die Kieselsteine in die Vase, setzt man also die richtigen Prioritäten, siehe da, wie durch ein Wunder, passen nicht nur alle Kieselsteine in die Vase, sondern auch der ganze Sand und Kies. Ziel erreicht, könnte man denken. Aber wie sieht diese Vase eigentlich aus? Ziemlich voll. Keine Leerräume. Alles ist ausgefüllt.
Lehrkräfte sehen sich vielen Aufgaben gegenüber, die sie für wichtig halten und vielleicht sind sie es auch, aber: Eine Vase ist eine Vase ist eine Vase. Die Zeitmenge bleibt immer gleich und „deswegen beginnen wir, sie zu verdichten, also mehr Dinge in weniger Zeit zu tun und das führt zum Gefühl einer Steigerung des Lebenstempos.“, sagt Soziologe Hartmut Rosa in der Fernsehdokumentation „Die erschöpfte Gesellschaft“. Die permanente Selbstoptimierung führt dazu, dass ein für die seelische Gesundheit essentieller Zustand ausstirbt. Es ist die Muße.
„Muße ist ein Zustand, in dem wir das Gefühl haben, das Tagwerk ist erledigt. Jetzt gibt es keine legitimen Erwartungen mehr an mich. Diese Art von Muße tritt heute nie ein.“ Denn, so sagt Rosa an anderer Stelle: „Wir kommen als Gesellschaft in eine Lage, in der wir uns immer schuldig fühlen, insbesondere, weil die To-Do-Liste immer größer ist, als das was wir abarbeiten können.“
Ein gefährlicher Teufelskreis, gerade für Menschen in sozialen und pädagogischen Berufen. Zeitmanagement ersetzt nicht die Fähigkeit, seine eigenen Grenzen zu kennen. Setzt man sie nicht früh und klar genug, tut es der Körper, z.B. durch Depressionen, Verspannungen, Schmerz oder die Stimme versagt. Körperorientiertes Stimmtraining ist eine gute Möglichkeit, die eigenen Grenzen kennenzulernen und zu schützen. Dann ist in einer Vase auch noch Platz für ein paar Blumen.
Fernsehdokumentation „Die erschöpfte Gesellschaft“ von Franziska Mayr-Keber und Constanze Griessler http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=53602